Handchecking – wie eine Regel die Liga veränderte

Fangen wir mit der wichtigsten aller Fragen an: Was ist dieses „Handchecking“ eigentlich und warum wiederholen vor allem ehemalige Spieler aus den 90er Jahren wie eine hängengebliebene Schallplatte, dass ihre Generation deswegen völlig anders zu bewerten sei?

Nun ja, das Ganze ist eigentlich ganz einfach erklärt: Früher war es dem Verteidiger erlaubt, stets eine Hand an der Hüfte des Gegenspielers zu haben. Somit war es wesentlich einfacher, mit Hilfe der Hände immer den perfekten Abstand zum eigenen Matchup herzustellen. Der Gegner ließ sich effektiv vor einem halten oder in die Richtung drängen, in der man ihn gerne haben wollte. Stellt euch das am besten wie eine Art haptisches Feedback für den Verteidiger vor. Es verwundert daher nicht, dass zu dieser Zeit für lange Dribblings schlichtweg kaum Platz war, weil die Verteidiger (zumindest die besseren ihrer Zunft) stets optimal positioniert vor einem klebten.

Erklärungen sind schön und nett, aber ihr hättet das jetzt gerne ein bisschen plastischer? Kein Problem, Kenny Smith erklärt euch das auf seine Art:

In der unsäglichen GOAT-Debatte bspw. wird von den Jordan-Fans gerne das Argument vorgetragen, dass sich „His Airness“ ständig mit Handchecking herumschlagen musste, LeBron hingegen nicht. Ob das (wie fast alle anderen Punkte dieser Diskussion auch) nun ein valides Argument darstellt oder nicht, sei mal dahingestellt. Fakt ist jedoch, dass Handchecking noch in den 90er Jahren gang und gäbe war. Weniger bekannt ist hingegen, dass bereits während der Jordan-Ära die Regeln mehrfach angepasst wurden, um das Spiel attraktiver und weniger physisch zu machen.

Let’s do something about it – Take 1

1976/77 lautete die Handchecking-Regel wie folgt:
“Handchecking: A defensive player is permitted to retain contact with his opponent as long as he does not impede his opponent’s progress.” 

Das heißt übersetzt, man durfte die Hand immer am Gegner lassen, solange man ihn „nicht an seiner Aktion hinderte“. Ihr rätselt jetzt, was das genau bedeuten sollte? Die Refs wussten das offensichtlich auch nicht. Die schwammige Formulierung dieser Regel führte zunehmend zu Chaos, da die Schiris unmöglich einschätzen konnten, wie viel Druck ein Verteidiger tatsächlich mit seinen Händen auf den Offensivspieler ausübte.

Let’s do something about it – Take 2

1994/95 wurden u.a. aufgrund der sogenannten „Jordan-Rules“ der Detroit Pistons (eine hyperaggressive Verteidigungsstrategie der Kolben, mit der sie Michael Jordan, so gut es eben ging, einzuschränken versuchten) erneut die Regeln angepasst. Die neue Marschrichtung lautete daher:
“Handchecking eliminated from the end line in the backcourt to the opposite foul line.

Es wurde quasi untersagt, den gegnerischen Point Guard schon über das ganze Feld mittels Handchecking vor sich zu halten. Vor allem balldominante Stars wie eben Michael Jordan, Reggie Miller, Penny Hardaway oder Grant Hill sollten von dieser Neuformulierung profitieren, da Handchecking nun bis zur Foullinie untersagt und der Ballvortrag sowie das Playmaking damit erleichtert wurden. 

Der Teufel lag aber, wie so oft, im Detail, oder genauer gesagt: im Wortlaut. Die Spieler dachten sich in der blütenweißen Weste aller Unschuldslämmer: „Na gut, ich darf also nicht mit der Hand schieben, aber von anderen Körperteilen hat niemand etwas gesagt.“, und drückten den Flügel- und Aufbauspielern statt der Hand nun einfach den Unterarm oder Ellenbogen gegen die Hüfte. Auch die Brust war plötzlich das Mittel der Wahl, um den Gegner in die gewünschte Richtung zu drängen.

Die Liga erkannte das relativ schnell und besserte 1999/00 wiederum nach.

Let’s do something about it – Take 3

“A defender may not make contact with his hands and/or forearms on an offensive player, except below the free throw line extended.”

Nun war also auch von Kontakt im Allgemeinen und Unterarmen im Speziellen die Rede. Da auch diese Anpassung jedoch nicht den nötigen offensiven Aufschwung brachte und Teams wie die „Bad Boy Pistons“ es weiterhin mit knallhartem, defensiv orientiertem Basketball schafften, die gegnerische Offensive fast komplett aus der eigenen Zone zu halten, wurde die Handchecking-Rule schließlich 2004 auf die noch heute gültige Regel angepasst.

Let’s do something about it – Take 4

“New rules were introduced to curtail handchecking, clarify blocking fouls and call defensive three seconds to open up the game.” 

Aber was genau sind diese „new rules“? Und was haben die „defensive three seconds“ damit zu tun? Das bringt uns zum nächsten Punkt.

Warum wollte die NBA das Handchecking eigentlich eliminieren und was passierte zwischen 2001 und 2004?

Gegen Ende der 90er wurde das Spiel in der NBA immer langsamer und träger und erreichte sein offensives Lowlight schließlich in der Saison 1998/99. Mit einer 88,9er Pace und einem Rekordtief von 91,6 Punkten pro Spiel war der Basketball zu einer zäh hin- und herwogenden Defensivschlacht geworden, in der sich spektakuläre Offensivszenen rarer machten als Tracy McGrady bei Trainingseinheiten.

Teams wie die knüppelhart verteidigenden New York Knicks der 90er Jahre machten das Spiel für Guards und balldominante Wings unglaublich schwierig, weil sie den gegnerischen Top-Spieler stets in Richtung Mitte drängten und ihn so direkt in die Arme des Help-Defenders trieben. Das trug maßgeblich dazu bei, dass das Spiel für den Zuschauer zunehmend eindimensionaler und damit unattraktiver wurde. Zudem wollte man die körperlich nicht gerade zimperlich behandelten Stars der Liga schützen und für einen mehr von der Offensive dominierten Basketball sorgen.

Man kann der NBA sicher vieles vorwerfen, aber dass sie eine der untätigeren Major Leagues sei, sicher nicht. 2001 wurden von einem speziell einberufenen Komitee neue Regeln erarbeitet, um Handchecking und seine Auswirkung auf das Spiel endgültig zu limitieren, den Offensivspielern mehr Raum zu verschaffen und Perimeter-Scorern mehr Möglichkeiten zu bieten. Stu Jackson, der frühere Executive Vice President of Basketball Operations der NBA, formulierte es damals so:

“The special committee on the rules anticipated when we implemented the package back in 2001 that, fundamentally, it would change the game. Collectively, all three of those [rules] allowed the game to breathe.”  

Das Spiel sollte also „atmen“. Folgende, einschneidende Regeländerungen wurden dazu erlassen: 
– Die illegal Defense wurde verboten,
– die defensiven 3 Sekunden eingeführt und
– die 10 Sekunden, um die Mittellinie zu überqueren, wurden auf 8 Sekunden verringert.

Dadurch erhöhte man nicht nur die Pace, sondern nahm den Bigs auch die Möglichkeit weg, gemütlich auf den anstürmenden Guard zu warten, der von den Kollegen via Handchecking direkt in Richtung der eigenen, bereits ausgefahrenen, Block-Hand dirigiert wurde. 2004, nachdem die Detroit Pistons trotzdem mit ihrer betonartigen Verteidigung Kobe Bryant immer wieder erfolgreich vom Korb fernhalten konnten, wurde die Handchecking-Rule in der heutigen Form erlassen (siehe Let‘s do something about it – Take 4).

Diese neuen Regeln besagen, dass jeglicher Kontakt, der den Gegenspieler bei der Ballführung behindert oder in eine Richtung drängt, verboten ist.

In Verbindung mit den Regeländerungen von 2001, auf deren Durchführung u.a. auch die Schiedsrichter nochmal explizit hingewiesen wurden, wurde das Spiel so für alle Perimeter-Spieler wesentlich einfacher.

Dieser Schritt brachte einschneidende Veränderungen mit sich. Urplötzlich wurde die NBA aus der Ära der dominanten Big Men in eine Epoche katapultiert, die von Point Guards dominiert wurde. Viele Guards erlebten in dieser Zeit einen merklichen Aufschwung. Kobe Bryant z.B. legte in den vier Jahren vor der Regeländerung im Durchschnitt 26,7 Punkte pro Spiel auf. In den vier darauffolgenden Saisons kam er auf 30,7 Punkte. Ähnlich verhielt es sich mit weiteren Guards, wie u.a. Ray Allen, der seinen Punkteschnitt in den folgenden drei Jahren (bis zu seinem Wechsel nach Boston) nochmals steigern konnte.

Es blieb jedoch nicht bei einer erfreulichen Entwicklung einzelner Spieler. Vielmehr gingen auch die Points per Game und das Offensivrating der kompletten NBA klar nach oben. Point Guards wie Steve Nash, Derrick Rose, Russell Westbrook, James Harden, Steph Curry, Kyrie Irving oder Damian Lillard übernahmen die Liga mit ihrem Ballhandling und ihrem tödlichen Perimeter-Game. Es war einfach viel mehr Platz für jeden schnellen Ballhandler, sich mit einem Dribbel-Move Raum zu verschaffen – und zwar innerhalb und außerhalb der Dreierlinie.

Die Akte Jerry Colangelo & Steve Nash

Sieht man sich die Gewinner der Maurice-Podoloff-Trophy direkt vor Einführung der aktuellen Handchecking-Rule an, nämlich …
2001/02: Tim Duncan
2002/03: Tim Duncan
2003/04: Kevin Garnett
…und vergleicht diese mit dem MVP der Folgejahre…
2004/05: Steve Nash
2005/06: Steve Nash
…drängen sich einem ein paar berechtigte Fragen auf. Warum konnte Steve Nash genau ab diesem Jahr noch einmal eine Schippe drauflegen? Weil er das Team gewechselt hatte? Weil er genau der Spielertyp war, der von den Regeländerungen profitierte? Weil er zufälligerweise genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort war?

Ja. Ja. Und Jein. Denn war es wirklich Zufall?

Der Kader der Phoenix Suns war in diesen Jahren perfekt auf Steve Nashs Game zugeschnitten und Jerry Colangelo, der alte Fuchs, wusste genau, welche Spieler er dafür brauchen würde. Ihr fragt euch, woher? Tja, Colangelo war damals Teil von jenem Komitee, das 2001 die vorgenannten Regeländerungen beschloss, die vor allem den offensiv versierten Guards zugutekamen. „Skill over Strength“ lautete das Motto. Das Spiel sollte mehr geöffnet und für den Zuschauer attraktiver gestaltet werden.

Ein Schelm, wer Böses dabei denke. Es sei denn, man ist David Griffin, damals Vice President der Phoenix Suns. Der hat nämlich gar nicht erst lange um den heißen Brei herumgeredet:

We had a built-in advantage, because Jerry Colangelo was the chairman of that board. We knew from the very beginning what was likely to come about. So we were able to plan for longer than everybody else. If you told Daryl Morey right now, that three years from now the cap is going to be a number that only he knows, Houston’s going to have a pretty big advantage. We were able to build a team that’s pretty ahead of the curve “

Wissta Bescheid. Und jahaa – wir kommen nun zu der Frage, die euch vermutlich schon die ganze Zeit unter den Nägeln brennt (ihr könnt das ruhig zugeben): Was wäre, wenn MJ heutzutage noch spielen würde – und zwar mit den heutigen Regeln? Würde er wie in alten Zeiten alles und jeden in Grund und Boden dominieren?

Meiner Meinung nach wäre Jordan nach wie vor einer der besten, wenn nicht der beste Spieler der NBA. Das hat jedoch relativ wenig mit der Handchecking-Regel zu tun. His Airness müsste sich natürlich zunächst einmal an die heutige Liga gewöhnen. Er müsste lernen, sein Game zu justieren und seinen Fokus mehr auf einen konstanten Dreier legen. Zu allem Überfluss müsste er außerdem mit Verteidigern klarkommen, die teils deutlich athletischer und schneller auf den Beinen sind. Gerade Spieler wie Patrick Beverley, Paul George oder Kawhi Leonard profitieren mit ihrem guten Stellungsspiel und ihrer guten Beinarbeit von den „new rules“ und sind schlicht und ergreifend bessere Verteidiger. Einen Ausnahme-Star wie Michael Jordan dürfte das aber alles nicht aus der Ruhe bringen.

Viele der damaligen Spieler fanden die neuen Regeln zuerst gar nicht gut oder gar unzumutbar. Doc Rivers z.B. sagte damals frei übersetzt dazu:

„Ich darf weder meine Hand noch meinen Unterarm benutzen? Ich soll jetzt meine Beine bewegen? So macht das keinen Spaß.“

Was allerdings durch die häufigen Veränderungen schwer zu vergleichen ist, sind die allseits beliebten Highlight-Tapes. Spieler wie Stephen Curry, Kyrie Irving oder James Harden hätten früher bei weitem weniger Platz für lange Dribblings auf einer Stelle mit anschließendem Stepback gehabt. Auch sie hätten unter dem damaligen Reglement andere Wege zum Scoren finden müssen. Bei ihrer individuellen Klasse hätten sie diese aber sicher auch gefunden.

Letztendlich glaube ich jedoch vor allem nicht, dass Michael Jordan heutzutage mehr Punkte auflegen würde. Eher denke ich, dass heutige Guards mit den Einschränkungen von damals weniger scoren würden.

Fazit:

Die Handchecking-Rule hat die Liga verändert wie fast keine andere Regel in der Geschichte des Basketballs – aber macht das aus einem Charles Barkley automatisch einen Kevin Durant? Nein. Die Spieler und das Spiel haben sich entwickelt und die meisten Profis der 90er würden in dieser Generation genauso Anpassungsschwierigkeiten haben wie die Spieler von heute zwei Dekaden zuvor.

Die Leidtragenden des Ganzen sind hauptsächlich die Big Men, denn seit 2004 haben nur Giannis Antetokounmpo, Dirk Nowitzki und Kevin Durant als größere Spieler einen MVP-Titel eingeheimst. Ein Center konnte seit der Regeländerung nie wieder die Trophäe sein eigen nennen. Doch auch die Position des Centers passt sich dem Spiel an und so kommen Jungs wie Joel Embiid, Karl-Anthony Towns und Nikola Jokic mit einem bei weitem kompletteren Paket daher als die meisten ihrer Vorgänger und wer weiß, wie lange es noch dauert, bis wieder ein Fünfer den begehrtesten individuellen Award der NBA in Händen hält.

Welche Art von Basketball einem jedoch besser gefällt, bleibt, wie so viele andere Themenfelder in diesem Sport, reine Geschmackssache.

We ain’t talkin’ about practice, we’re talkin’ the game.                                                         

Euer Mat

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